Montag, 8. Februar 2016

Elefantenbullen und Schafe


Ich bin überzeugt, damit christlicher Glaube lebendig, vital und begeistert ist, müssen Christen vier entscheidende Grunderfahrungen machen:
  • Die Erfahrung liebevoller Gemeinschaft
  • Die Erfahrung tiefgreifender persönlicher Veränderung
  • Die Erfahrung von Gotteserlebnissen, also Godstories, Gotteserfahrungen
  • Die Erfahrung von persönlicher Berufung, also sich als Teil von etwas Größerem erleben
 Einerseits muss sich der einzelne Gläubige um diese Grunderfahrungen bemühen, andererseits muss eine Kirche sich so organisieren, dass diese Grunderfahrungen dort tatsächlich möglich sind.
Zunächst jedoch ein paar Worte zum Thema liebevolle Gemeinschaft.
Jesus hat darüber gesprochen, als er sagte:
Johannes 13, 34 Ich gebe euch ein neues Gebot: Liebt einander! Ihr sollt einander lieben, wie ich euch geliebt habe. 35 An eurer Liebe zueinander werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid.«
Die allererste Gemeinde die dann entstanden ist hat genau diese Grunderfahrung sicherstellen wollen und darum lesen wir über sie:
 Apg.2, 44 Alle, die zum Glauben gekommen waren, bildeten eine enge Gemeinschaft und taten ihren ganzen Besitz zusammen. 45 Von Fall zu Fall verkauften sie Grundstücke und Wertgegenstände und verteilten den Erlös unter die Bedürftigen in der Gemeinde. 46 Tag für Tag versammelten sie sich einmütig im Tempel, und in ihren Häusern hielten sie das Mahl des Herrn und aßen gemeinsam, mit jubelnder Freude und reinem Herzen.
Und 30 Jahre später schreibt Paulus in seinem Brief an die Philipper immer noch von der Wichtigkeit dieser liebevollen Gemeinschaft, indem er sagt:
Phil.2, 1 Ermutigt ihr euch gegenseitig, Christus nachzufolgen? Tröstet ihr euch gegenseitig in Liebe? Seid ihr im Heiligen Geist verbunden? Gibt es unter euch Barmherzigkeit und Mitgefühl? 2 Dann macht doch meine Freude vollkommen, indem ihr in guter Gemeinschaft zusammenarbeitet, einander liebt und von ganzem Herzen zusammenhaltet. 3 Seid nicht selbstsüchtig; strebt nicht danach, einen guten Eindruck auf andere zu machen, sondern seid bescheiden und achtet die anderen höher als euch selbst. 4 Denkt nicht nur an eure eigenen Angelegenheiten, sondern interessiert euch auch für die anderen und für das, was sie tun.
Diese Verse müssten nicht in der Bibel stehen, wenn liebevolle Gemeinschaft einfach wäre. Mose, Jesus und Paulus mussten dazu ermahnen, dazu ermutigen, dass liebevolle Gemeinschaft gelingt.
Heute jedoch begegnen wir einer ganz besonderen Problematik. Es ist die Individualisierung des Glaubens, die ein großes Hindernis für liebevolle Gemeinschaft darstellt.

Wir erleben seit vielen Jahrzehnten eine gesellschaftliche Entwicklung, die der Erfahrung von liebevoller Gemeinschaft entgegenläuft.

Zunächst einmal waren antike Gesellschaften geprägt vom Gedanken des Kollektiv. Ein Mensch konnte sich nicht anders definieren und wahrnehmen als Teil eines Kollektivs. Ich bin immer Teil eines Ganzen. Teil einer Familie, einer Sippe, eines Stammes oder eines Volkes. Und mein Schicksal ist untrennbar verbunden mit dem Schicksal dieses Kollektivs. Segen ist kollektiver Segen und Strafe ist kollektive Strafe. Der Gedanke an Individualität ist in keinster Weise auf dem Radar der antiken Menschen! Entscheidungsfreiheit, Entscheidungshoheit oder individuelle Willensfreiheit sind fremde Gedanken einer antiken Sippen- oder Stammesgesellschaft. Ich bin Teil eines Ganzen, Teil eines kollektiven Willens und kollektiver Entscheidungen.

Wenn der König Gehorsam ist, wird er und das ganze Volk von den Göttern gesegnet.
Wenn ein feindliches Gebiet erobert wird, wird dort der ganze Stamm ausgerottet.
Wenn der König anfängt Götzen anzubeten, folgt ihm das ganze Volk in dieser Praxis.
Wenn am Sabbat Synagogengottesdienst ist, geht das ganze Dorf, da kann sich keiner rausnehmen.
Wenn der Israelit Achan im Buch Josua verbotenerweise etwas aus der eroberten Stadt Jericho an sich nimmt, ist Gott über ganz Israel erzürnt und es wird nicht nur er, sondern seine ganze Familie und sogar seine Herden mit dem Tod bestraft.
Auf die Frage des Gefängniswärters in Philippi, was er tun muss kann Paulus antworten: Apg.16,31 : »Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und alle, die in deinem Haus leben!« Alle in deinem Haus! Das ist kollektives Denken, sogar kollektives Heilsverständnis!
Wenn über Gott gesprochen wurde, dann redet man nie von meinem Gott, sondern immer von dem Gott meiner Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs! Es ist der Gott eines Volkes, einer Sippe und einer Familie, der Gott meiner Väter! 

Die Bibel gebraucht interessanterweise für die Gläubigen ausschließlich kollektive Bilder:
Im Alten Testament das Bild des Volkes Gottes, also ein ganzes Volk als Ausdruck der Gemeinschaft der Gläubigen.

Im Neuen Testament haben wir das Bild der Herde, und wir alle sind Schafe des einen Hirten und Teil einer Herde. Noch nie hat ein Orientale von einem einzelnen Schaf gehört, sondern immer nur von einer Schafherde. Gläubige sind nicht Elefantenbullen oder Tiger, die als Einzelgänger unterwegs sind und sich nur zur Paarungszeit begegnen! Wir sind Schafe und gehören zu einer Herde.
Oder dem ganz starken Bild des Körpers bei Paulus, wo jeder Gläubige ein Körperteil ist, dass über Sehnen und Bänder mit anderen verbunden ist und jeder das andere braucht und keines ohne das andere existieren kann.

1.Kor.12,12 So wie unser Leib aus vielen Gliedern besteht und diese Glieder einen Leib bilden, so besteht auch die Gemeinde Christi aus vielen Gliedern und ist doch ein einziger Leib.
Dieses kollektive Verständnis von Leben und von Glauben ist viele Jahrtausende Lebensgefühl aller Menschen. Auch noch im Mittelalter waren die Menschen Teil der Entscheidungen und des Glaubens ihres Fürsten, ihres Königs oder ihres Regenten. Wird der Fürst protestantisch, werden auch die Einwohner seines Landes protestantisch. Wird ein anderer Fürst katholisch, werden seine Untertanen ebenfalls katholisch.
Und nun leitet ein junges Mönchlein aus Wittenberg eine entscheidende Wende ein: aus kollektiv wird persönlich. Luther entdeckt im Evangelium die persönliche Seite des Glaubens. Wenn er von sola fide, also allein aus Glauben redet, dann meint er vor allem, dass es der persönliche Glaube ist, der mich rettet. Es reicht eben nicht, nur Teil eines gläubigen Kollektivs zu sein. Der Papst ist katholisch, der Fürst ist katholisch und ich bin auch katholisch. Luther erkannte, dass kollektive Zugehörigkeit zum Glauben nicht alles ist, das braucht einen weiteren Schritt.
Zugehörigkeit zu einem Kollektiv ist ganz wichtig, aber Glaube muss auch persönlich sein. Das war die große Entdeckung Luthers.

Kollektiv bedeutet: für mich gilt, was für alle gilt.
Persönlich bedeutet: von Herzen.
Kollektiv bedeutet: ich schließe mich dem Glauben an, den alle haben
Persönlich bedeutet: ich glaube mit meinem ganzen Herzen.

Luther hat also nicht nur die Gnade Gottes wiederentdeckt angesichts einer entarteten mittelalterlichen Werkgerechtigkeit, sondern ganz stark auch die Bedeutung des persönlichen, von Herzen kommenden Glaubens im Gegensatz zur stumpfen kollektiven Zugehörigkeit zum Christentum. Vom Kollektiv zum persönlichen, vom Äußeren zum Herzen.
Das Kollektive bleibt für Luther nach wie vor wichtig, die große Verbundenheit, den Blick auf das große Ganze, aber hinzu kommt der persönliche Aspekt, dass mein Glauben und meine Taten von Herzen kommen müssen, meine Herzensentscheidung sein müssen.

Nun ereignet sich aber die nächste gesellschaftliche Entwicklung, die heute unser größtes Hindernis für liebevolle Gemeinschaft darstellt. Sie beginnt mit der Aufklärung und der Entstehung von wirtschaftlichem Privatbesitz. Aus kollektiv wird persönlich und aus persönlich wird plötzlich privat bzw. individuell.
Privat heißt jetzt aber plötzlich: ich mache es für mich. Das geht deutlich über das »von Herzen« hinaus. Die Frage ist jetzt nicht nur, ob es von Herzen kommt. Die Frage ist jetzt vor allem was es mir bringt. Mache ich das für mich? Privat heißt: ich mache es für mich, losgelöst vom Kollektiv, eben privat.
Und individuell führt das Ganze noch einen Schritt weiter: Individuell heißt: ich mache es auf meine Art und Weise, ich mache es anders, individuell. Es genauso zu machen wie der andere scheint zur regelrechten Bedrohung meiner Individualität zu werden! Wir stehen heutzutage alle unter dem Diktat der Individualität, das uns weiß machen möchte, dass alles kollektive und gemeinsame schädliche Gleichmacherei ist.

Aber Glaube und Nachfolge waren nie als etwas privates oder individuelles gedacht. Sie waren als etwas kollektives aber persönliches gedacht. Und privat bzw. individuell ist eben das Gegenteil von kollektiv und persönlich. Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft, wo die große Frage ist, wie es für mich stimmt, und was es mir bringt. Das ist das soziale Glaubensbekenntnis unserer heutigen Gesellschaft. Aber je individueller mein Glaube und meine Nachfolge, desto schwieriger wird liebevolle Gemeinschaft .
Zusammenhalten, einträchtig sein, miteinander teilen, gemeinsam essen, sich gemeinsam versammeln, bescheiden sein, Verbindlichkeit, sich für die Dinge des anderen interessieren, nicht nur auf mich schauen, sich einander verschenken, Verzicht üben, die Schwierigkeiten des anderen auf mich nehmen, so selbstlos lieben wie Christus gelebt hat – all das ist Gift für einen Glauben, der privat oder individuell sein möchte. Wenn wir die Grunderfahrung einer liebevollen Gemeinschaft machen wollen, dann müssen wir uns verabschieden von einem privaten und individuellen Glauben! Glaube muss persönlich sein, unbedingt, aber das ist etwas ganz anderes wie privat oder individuell. Glaube ist keine Privatsache! Glaube ist nichts individuelles! Er ist persönlich!
Wenn Christen sich entscheiden, ihren Glauben privat zu leben, ohne Gemeinschaft, ohne Anbindung, ohne Verbindlichkeit, ohne Kollektiv, ohne lokale Gemeinde und Kirche dann reden wir hier nicht von biblischem Glauben, nicht von Jesusglaube. Dann reden wir von einer individualisierten Form des Glaubens, der nur noch eine geringe Schnittmenge mit biblischem Glauben hat.

Und seltsamerweise haben immer mehr Christen den Eindruck, eine Recht auf einen privaten Glauben zu haben. Der Glaube verschwindet aus dem öffentlichen Leben, wird zu etwas, über das man nicht spricht, es wird sogar peinlich darüber zu sprechen, Glaube wird dadurch zum Tabuthema und in den persönlichen Schambereich verwiesen. Es ist ähnlich tabu über seinen Glauben zu reden, wie über seine Sexualität. Und plötzlich ist Glaube eine Sache des privaten, Privatsache.
Warnend beschreibt Johannes in seinem ersten Brief die Konsequenzen eines solchen individualisierten Privatglaubens:
1.Joh.3,16 Christus gab sein Leben für uns hin; daran haben wir erkannt, was Liebe ist. Auch wir müssen deshalb unser Leben für unsere Brüder und Schwestern einsetzen. 17 Angenommen, jemand hat alles, was er in der Welt braucht. Nun sieht er seinen Bruder oder seine Schwester Not leiden, verschließt aber sein Herz vor ihnen. Wie kann da die Liebe Gottes in ihm bleiben und er in ihr?

Wie ist es möglich, dass ein Christ sich verschließt vor der Not eines anderen Christen, obwohl er genug hatte um zu helfen? So etwas geht nur, wenn Glaube zur Privatsache wurde. Dann geht es eben nur noch um meinen Glauben und was er mir bringt und was er für mich bedeutet. Es geht um mein persönliches Heil, um meine Gottesbeziehung, aber nicht mehr um das Ganze, die Geschwister und das Kollektiv. Dann geht mich der andere eben plötzlich nichts mehr an. Dann kann ich mich tatsächlich verschließen vor dem anderen und seiner Not. Aber genau die Realität dieses Verses erleben wir zuhauf in der westlichen Christenheit, die nicht mehr Kollektiv denkt, nicht mehr in Sippen und Familien, sondern hauptsächlich privat und individuell.

Es bleibt dabei: wir sind Schafe, keine Elefantenbullen.




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